Im Labor an der ETH Zürich züchten Forscher Miniorgane, welche als Alternative für Tierversuche gebraucht werden. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Im Labor an der ETH Zürich züchten Forscher Miniorgane, welche als Alternative für Tierversuche gebraucht werden. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Miniorgane statt Tierversuche: Wie Schweizer Forscher das Leiden der Mäuse beenden wollen

Zu viel Schmerz, zu wenig Erkenntnisgewinn: Experimente an Tieren stehen politisch unter Beschuss. Die Schweizer Hochschulen setzen derweil auf Fortschritt statt Verbote.

Larissa Rhyn (Text), Joël Hunn (Bilder)
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Das unförmige Gebilde unter dem Mikroskop erinnert an vieles – aber kaum an einen Darm. Trotzdem ist es genau das. Zumindest, wenn man nur auf die Zellen achtet, aus denen es aufgebaut ist. In Miniorgane wie dieses, auch Organoide genannt, setzen Forscher grosse Hoffnungen: Sie sollen in Zukunft Tierversuche ersetzen. Oder zumindest dabei helfen, deren Anzahl stark zu reduzieren.

Nina Frey steht im Labor der ETH Zürich auf dem Hönggerberg und füttert die Organoide. Was gruslig klingt, läuft nüchtern ab: Die Doktorandin nimmt eine durchsichtige Platte mit runden Vertiefungen aus einem Wärmeschrank. Hier drin werden menschliche Zellen gezüchtet, die zu Gewebemodellen eines Darms oder einer Bauchspeicheldrüse heranwachsen sollen. Frey fügt mit der Pipette kleine Mengen Nährflüssigkeit in jede Vertiefung.

Die Doktorandin Nina Frey füttert die Organoide mit Nährflüssigkeit. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Die Doktorandin Nina Frey füttert die Organoide mit Nährflüssigkeit. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Um verschiedene chemische Bestandteile von Medikamenten testen zu können, haben die Forscher an der ETH eine Biobank mit den Zellen gesunder und krebskranker Patienten aufgebaut. Der Projektleiter Gerald Schwank erklärt: «Wir erhalten vom Universitätsspital Zürich jeweils Tumorzellen nach einer Operation. Damit können wir im Labor neues Gewebe züchten.»

Die Ziele des Projekts: Beweisen, dass Organoide mindestens gleich verlässliche Resultate liefern können wie Tierversuche. Und herausfinden, welche zugelassenen Medikamente und Therapien neu auch bei Darm- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs eingesetzt werden könnten.

Eine halbe Million Tiere in Experimenten

Während die Zahl der Tierversuche in den 1980er Jahren stark abgenommen hat, blieb sie in den letzten zwei Jahrzehnten weitgehend konstant. 2018 mussten noch immer über eine halbe Million Mäuse, Affen, Hunde und andere Tiere für Experimente herhalten. Dazu gehören Verhaltensforschungen, von denen die Tiere kaum etwas spüren, aber auch schwer belastende Operationen oder Medikamententests.

Tierversuche in der Schweiz

Zwei Drittel weniger Versuchstiere als Anfang der 1980er Jahre (in Millionen)
Mäuse
Andere Tiere

Beim Ersatz von Tierversuchen gibt es also noch Luft nach oben. Das wollen die ETH-Forscher ausnützen. Ihr Projekt ist eines der ersten weltweit, die auf Tumororganoide spezialisiert sind. Um zu beweisen, dass ihre Resultate verlässlich sind, müssen die Forscher Vergleiche mit den bisherigen Methoden machen. Dabei kommen sie nicht darum herum, selbst Tierversuche durchzuführen. Schwank sagt, dass vergleichsweise wenige Mäuse hätten verwendet werden müssen: «Wir konnten zum Glück auf viele bestehende Versuchsdaten zurückgreifen. Dadurch mussten wir nur an zwei Dutzend Nagern selbst Experimente durchführen.»

Vom Maustumor zum humanen Gewebe

Die Krebsforschung ist ein Beispiel dafür, wie sich Versuchsmethoden innert kurzer Zeit verändern können: Noch vor einigen Jahren hatten Forscher hauptsächlich Maustumore in Nagetieren entwickeln lassen, um Medikamente testen zu können. Schnell zeigte sich jedoch, dass die Maustumore oft anders auf die Wirkstoffe reagierten als solche bei Menschen.

Also griffen die Wissenschafter auf menschliche Tumore zurück. Dafür veränderten sie die Gene der Mäuse so, dass sie den Krebs nicht abstiessen. Diese Methode wird bis heute verwendet und liefert relativ verlässliche Resultate dazu, wie Krebsmedikamente auf Tumore wirken. «Aber die Tiere leiden dabei, zudem kann nur eine beschränkte Anzahl Medikamente so getestet werden», sagt Schwank. Daher begann man vor rund zehn Jahren damit, menschliche Zellgebilde im Labor zu züchten.

Bis aus Stammzellen genügend Miniorgane entstanden sind, dauert es zwei bis drei Monate. Dann kommen Roboter ins Spiel: Sie verteilen chemische Bestandteile von Medikamenten auf den Organoiden und registrieren, ob und wie schnell sich die Tumore zurückbilden. Dank der Zusammenarbeit mit der Technologieplattform Nexus, welche die Roboter an der ETH betreibt, können Schwank und sein Team innert weniger Tage mehrere tausend Bestandteile von Medikamenten testen. Dies wäre mit Mäusen nicht möglich – weil zu viele Tiere benötigt würden.

Dank einem Roboter können Tausende Medikamentenbestandteile innert kurzer Zeit getestet werden. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Dank einem Roboter können Tausende Medikamentenbestandteile innert kurzer Zeit getestet werden. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Schwank setzt grosse Hoffnungen in diese Ersatzmethode: «Wir rechnen damit, dass in Zukunft noch deutlich weniger Tierversuche nötig sein werden, weil nur noch die vielversprechendsten Medikamente an Mäusen getestet werden müssen.»

Ein grosser Fortschritt also, aber kein kompletter Ersatz von Tierversuchen. Schwank erklärt dies damit, dass die Organoide Modelle bleiben – und beispielsweise nicht voraussagen können, wie der Körper als Ganzes auf die Medikamente reagiert. Forscher versuchen zwar bereits, die Reaktion mehrerer Organe mit der sogenannten «Organ on a chip»-Methode zu testen. Doch hier ist die Forschung noch nicht weit genug.

«Wir müssen endlich anfangen, den Umweg Tierversuch hinter uns zu lassen und früher zum Menschen überzugehen.»

Julika Fitzi vom Schweizer Tierschutz (STS) kritisiert, dass an die Ersatzmethoden zu hohe Forderungen gestellt würden. «Wenn weiterhin verlangt wird, dass Forschung für die menschliche Gesundheit mit Ersatzmethoden zusätzlich anhand von Tierexperimenten bestätigt werden muss, sind wir in hundert Jahren noch gleich weit wie heute.»

Tierversuche seien ohnehin nur bedingt aussagekräftig für die Gesundheit des Menschen. «Wir müssen endlich anfangen, den Umweg Tierversuch hinter uns zu lassen und früher zum Menschen überzugehen.» Nicht nur die Forschung mit menschlichen Zellen oder Geweben, sondern auch Computersimulationen oder Microdosing würden dies ermöglichen, so Fitzi.

Ganz ohne Tierversuche geht es an der ETH noch nicht: eine Labormaus in ihrem Käfig. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Ganz ohne Tierversuche geht es an der ETH noch nicht: eine Labormaus in ihrem Käfig. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Schwank hält dagegen: Die Ersatzmethoden hätten zwar in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht, trotzdem seien Tierversuche aus der Forschung noch nicht wegzudenken: «Ich halte es für verantwortungslos, neue Medikamente nicht mehr am Tier, sondern direkt am Menschen zu testen.» Dafür sei die Forschung noch nicht genügend weit. Im Labor könne man schlicht nicht alle gefährlichen Nebenwirkungen erkennen.

Nutzen muss das Tierleiden rechtfertigen

Der STS fordert zwar kein komplettes Verbot von Tierversuchen, unterstützt aber eine parlamentarische Initiative von Maya Graf (gp.), die nur diejenigen Versuche verbieten will, welche für Tiere schwer belastend sind – also dem Schweregrad 3 zugeteilt werden. Schwank hält dies für nicht zielführend. «Ohne diese Tests gäbe es viele lebensrettende Medikamente nicht, die heute auf dem Markt sind.» Zahlen des Bundes zeigen, dass in der Schweiz weniger als 3 Prozent der Versuchstiere einer schweren Belastung ausgesetzt sind.

Der Nationalrat debattiert voraussichtlich in der Herbstsession über den Vorstoss. Dieser dürfte es schwer haben: Die zuständige Kommission hat ihn im Mai relativ deutlich abgelehnt – mit dem Verweis auf die strengen Bewilligungsmechanismen in der Schweiz. Wenn Forscher einen Tierversuch durchführen wollen, müssen sie dies bei den kantonalen Behörden melden und aufzeigen, dass der Versuch nicht mit einer Alternativmethode durchgeführt werden kann. Zudem muss der zu erwartende Nutzen das Leiden des Tiers rechtfertigen.

Menschliches Gewebe aus dem 3-D-Drucker

Während an der ETH derzeit rund 130 Projekte laufen, bei denen Tierversuche durchgeführt werden, sind sie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die Ausnahme. Hier wird kaum Grundlagenforschung betrieben – vielmehr geht es darum, zusammen mit der Industrie Alternativen zu Tierversuchen zu entwickeln. Dafür stellen der Biologe Markus Rimann und sein Team am Institut für Chemie und Biotechnologie mit dem 3-D-Drucker menschliche Gewebe her. Dieser Prozess wird Bioprinting genannt.

Was nach Science-Fiction klingt, bedarf im Labor aufwendiger Präzisionsarbeit: Markus Rimann überwacht das Bioprinting. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Was nach Science-Fiction klingt, bedarf im Labor aufwendiger Präzisionsarbeit: Markus Rimann überwacht das Bioprinting. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Zuerst züchtet Rimann im Labor Zellen, die er anschliessend mit einer gelartigen Flüssigkeit mischt. Daraus entsteht die sogenannte Biotinte. Vor dem Druckprozess müssen die Forscher den Computer programmieren. Dabei geben sie vor, wie die Zellen im dreidimensionalen Raum angeordnet sein sollen. Als der 3-D-Drucker schliesslich mechanisch seine Arbeit aufnimmt, deponiert er Tropfen für Tropfen, bis ein Gebilde entsteht, das von Auge kaum sichtbar ist. Daraus wird später ein menschlicher Muskel entstehen.

Der 3-D-Drucker bei der Arbeit: Winzige Tröpfchen Biotinte werden in einem präzisen Muster dreidimensional platziert. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Der 3-D-Drucker bei der Arbeit: Winzige Tröpfchen Biotinte werden in einem präzisen Muster dreidimensional platziert. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Die ZHAW gehört zu den Pionieren im Bioprinting. Vor einigen Jahren haben Rimann und seine Kollegen mit der Herstellung von gedruckter menschlicher Haut begonnen. Nachdem in der EU Tierversuche für Kosmetika verboten worden waren, war die Nachfrage danach gross. Nun haben sich die Forscher eine neue Herausforderung gesucht. Sie wollen nicht nur die Struktur eines menschlichen Skelettmuskels nachbilden, sondern auch dessen Funktion. Das Gewebe soll auf elektrische Impulse reagieren und sich dabei zusammenziehen.

Wenige Muskeln pro Maus

Die Muskeln sind noch in der Entwicklung. Wenn sie ausgereift sind, werden an ihnen Medikamente gegen Muskelschwäche getestet. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeitet die ZHAW mit mehreren Industriepartnern zusammen – unter anderem mit Novartis, die wie andere Pharmafirmen Alternativen zu Tierversuchen sucht.

Bis anhin müssen Forscher Mäuse töten und ihnen Muskeln entnehmen, um daran Wirkstoffe zu testen. Rimann sagt, dass dies nicht nur aus Sicht des Tierschutzes viele Nachteile habe: «Jedem Tier können nur wenige Muskeln entnommen werden, weshalb die Tests teuer sind und es schwierig ist, reproduzierbare und verlässliche Resultate zu erhalten.»

Nach dem 3-D-Druck sind Zellstrukturen entstanden, die von Auge kaum erkennbar sind. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Nach dem 3-D-Druck sind Zellstrukturen entstanden, die von Auge kaum erkennbar sind. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Tierversuche als Verbrechen

Tierversuche polarisieren. Trotzdem hatten alle Initiativen, die Einschränkungen und Verbote verlangten, in der Schweiz an der Urne bisher keinen Erfolg. Indirekt erreichten die Initianten dennoch etwas: In den 1990ern wurde nach einer hitzigen Debatte das Tierschutzgesetz überarbeitet. Seither müssen alle Tierversuche von einer Kommission bewilligt werden.

Der nächste politische Angriff ist bereits lanciert. Neben dem Vorstoss im Nationalrat, der Tierversuche einschränken will, ist auch eine Initiative hängig, die ein umfassendes Verbot anstrebt. Sie wurde Anfang Jahr mit rund 120 000 Unterschriften eingereicht. Dem radikalen Anliegen stehen selbst manche Tierschützer kritisch gegenüber. Die Initiative verlangt, dass Tierversuche wie Verbrechen bestraft werden können, und will den Import von Produkten verbieten, die mithilfe von Tierversuchen entwickelt wurden.

«Enormes Missverhältnis» bei Geldern

Ein Punkt im Initiativtext findet derweil mehr Unterstützung: die Forderung, dass mindestens gleich viel Geld in die Förderung von 3R-Methoden investiert wird, wie gegenwärtig für Tierversuche ausgegeben wird. 3R steht für Ersatz, Verbesserung und Reduktion von Tierversuchen. Julika Fitzi vom Schweizer Tierschutz sagt: «Die Ausgaben für tierversuchsbasierte Forschung stehen in einem enormen Missverhältnis zu den Geldern, die für die Entwicklung von Alternativmethoden eingesetzt werden.»

Wie viel Geld genau in beide Bereiche fliesst, ist nicht bekannt. Fitzi hat berechnet, dass allein die Haltung der Labornager in der Schweiz letztes Jahr rund 220 Millionen gekostet habe – wobei diverse weitere Versuchskosten nicht einberechnet sind. Dies vergleicht sie mit dem 3-Millionen-Budget des Swiss 3R Competence Centre, welches den Ersatz und die Verbesserung von Tierversuchen fördert – wobei jedoch nur 1,2 Millionen direkt in Forschungsprojekte fliessen.

Der Vergleich greift zu kurz, unter anderem weil Projekte, in denen 3R-Methoden angewendet werden, auch andernorts Unterstützung erhalten. Trotzdem gibt er einen Eindruck davon, wie zentral Tierversuche in der Schweizer Forschung nach wie vor sind. Und welches Potenzial noch in den Ersatzmethoden schlummert.

Podcast: 7 x die Schweiz

Wir nehmen die eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2019 zum Anlass für eine Reise durch die Schweiz. Wir besuchen 7 Menschen aus 7 Regionen und fragen: Was macht dieses Land eigentlich aus? Hören und abonnieren auf Spotify oder Apple Podcasts.

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