Digitalisierung Fokusartikel

Wie die Covid-19-Pandemie die Digitalisierung des Sozialbereichs vorangetrieben hat

Juni 2021

Die Covid-19-Pandemie hat auch im Sozialbereich der Schweiz zu drastischen Veränderungen geführt. Das Forschungsprojekt "through2gether" ist diesem Wandel nachgegangen und hat über 800 Organisationen zu ihren digitalen Entwicklungen während der Pandemie befragt.

Die Covid-19-Pandemie hat die digitale Entwicklung in sehr vielen Lebensbereichen in bisher kaum gekannter Geschwindigkeit vorangetrieben. Kaum eine Branche blieb von diesen Entwicklungen verschont, kaum eine Firma konnte ihre Beziehungen in der bisherigen Form weiter pflegen. Auch der Sozialbereich in der Schweiz blieb von diesen disruptiven Veränderungen nicht verschont. Die Studie through2gether ging den Fragen nach, wie dieser Wandel in Organisationen der Sozialen Arbeit wahrgenommen wird, welche Strategien entwickelt werden und wer den Wandel aktiv mitgestaltet.

Digitale Entwicklungen finden statt: im ambulanten Bereich stärker als im stationären

Die digitalen Entwicklungen, welche im Sozialbereich stattgefunden haben, sind nicht über alle Tätigkeitsfelder gleich verteilt. Die Teilnehmenden der Befragung wurden um eine generelle Einschätzung des digitalen Entwicklungsstandes ihrer Organisation vor und während der Pandemie gebeten. Die beiden Einschätzungen konnten auf einer Skala von 1 (kaum entwickelt) bis 10 (sehr weitgehend entwickelt) angegeben werden. Vor der Pandemie schätzten die Personen ihre Organisation im Mittel bei 5.5 ein, während der Pandemie bei 5.9, das heisst 0.4 Punkte höher. Einige Personen sahen jedoch auch eine Verschlechterung des digitalen Entwicklungsstandes ihrer Organisation während der Pandemie. Die grössten Unterschiede in der digitalen Entwicklung während der Pandemie zeigen sich zwischen (primär) ambulanten (+0.52 Punkte) und (primär) stationären (+0.21 Punkte) Angeboten. Die folgende Abbildung zeigt dies auf Basis der Antworten der Teilnehmenden.

Design der Studie through2gether

Das Ziel der Studie besteht darin, zu mehreren Befragungszeitpunkten die digitale Entwicklung im Sozialbereich zu erfassen, die treibenden Kräfte zu erkennen und die Auswirkungen auf die Organisationen und die Mitarbeitenden aufzuzeigen.

Die erste Online-Befragung fand im Juni und Juli 2020 statt, kurz nach dem Lockdown der ersten Pandemie-Welle. Es wurden Mitglieder und Interessierte des Vereins sozialinfo.ch sowie Kontakte der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW zur Befragung eingeladen.

Gesamthaft haben 832 Personen an der kompletten Befragung teilgenommen. Davon sind 36% in einer Geschäfts- oder Bereichsleitungsfunktion und etwa gleich viele (38%) als Mitarbeitende ohne Leitungsfunktion tätig. 57% arbeiten in Organisationen mit weniger als 25 Mitarbeitenden und nur 15% arbeiten in Organisationen mit mehr als 100 Mitarbeitenden. 41% sind angestellt in öffentlich-rechtlichen Organisationen und 59% in privatrechtlichen (Stiftung, Verein, Aktiengesellschaft, GmbH und weitere).

Positive Werte zeigen hier eine Zunahme des Entwicklungsstandes und negative Werte eine Abnahme. Viele Entwicklungen scheinen die Folge eines Handlungsdruckes gewesen zu sein. Während stationäre Angebote kaum durch digitale Kontakte ersetzt werden können, wurde dies bei ambulanten Angeboten, beispielsweise Beratungen, zur Pflicht. Die Infrastrukturen, wie beispielsweise Video-Konferenzsysteme, mussten im ambulanten Bereich wesentlich schneller zur Verfügung gestellt werden. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wird sich zeigen, ob allenfalls im stationären Bereich ein nachholender Effekt zu verzeichnen sein wird und ob die digitalen Entwicklungen im ambulanten Bereich beibehalten werden.

Digitalisierung wird zur "Chefsache"

Digitale Entwicklungen sind auch im Sozialbereich von zwei Faktoren abhängig, erstens dem Innovationsgeist und zweitens der Finanzierung. Bereits eine Bestandesaufnahme der digitalen Entwicklung im Jahre 2019 hat aufgezeigt, dass primär die Leitungsebene Entwicklungen initiiert. Folgende Abbildung zeigt, dass die aktuelle Studie zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt. Erstaunlich ist jedoch, dass die Wichtigkeit der Leitungsebene durch die Pandemie noch zusätzlich akzentuiert wurde. Während 49% der Befragten angegeben haben, dass vor der Pandemie die Geschäftsleitung primärer Entwicklungstreiber bei der Digitalisierung war, so waren dies während der Pandemie bereits 55%. Externe Faktoren wie Gesetzesänderungen wurden nur vereinzelt als primäre Entwicklungstreiber genannt. In beiden Studien konnte jedoch noch nicht geklärt werden, ob die Leitungsebene über die eigentlichen Ideen und Innovationen Einfluss nimmt oder stärker über die formale Entscheidungskompetenz zur Finanzierung.

In privaten Organisationen wurde die Geschäftsleitung wesentlich häufiger als Entwicklungstreiber genannt (54% vor der Pandemie) als in öffentlich-rechtlichen (42% vor der Pandemie). Unterschiede in der Einschätzung, wer primärer Entwicklungstreiber in der Organisation ist, existieren auch zwischen den Funktionsstufen. 60% der Personen mit Geschäftsleitungsfunktion sehen sich selbst als die relevanteste Person bei der digitalen Entwicklung. Die Befragten mit Teamleitungsfunktion sehen die Geschäftsleitung jedoch nur in 39% der Fälle als primären Entwicklungstreiber.

Ortsunabhängiges Arbeiten wurde einfacher

Auch im Sozialbereich hat die Verwendung neuer Kommunikationsmittel während der Pandemie stark zugenommen. Die Teilnehmenden an der Umfrage haben zu ausgewählten Kommunikationsmittel auf einer Skala von 1 bis 5 angegeben, wie häufig sie die jeweiligen Kommunikationsmöglichkeiten vor und während der Pandemie genutzt haben. Folgende Abbildung zeigt die durchschnittliche Differenz der Nutzung vor und während der Pandemie.

Es zeigt sich deutlich, dass die (teilweise verordnete) ortsunabhängige Arbeit durch die Kommunikationsmittel wesentlich gefördert wurde. Vor allem die Video-Kommunikation im Team (+1.7 Punkte) und mit den Klientinnen und Klienten (+1.4 Punkte), sowie die Telefonkontakte (vor allem im Team) wurden wichtig. Viel häufiger wurde auch ein ortsunabhängiger Zugang zu Dokumenten genutzt. Der Mailverkehr hat durch die Pandemie kaum zugenommen. Auch weitere Kommunikationsmöglichkeiten wie Messenger-Dienste, Informationsboards und das Intranet wurden kaum häufiger genutzt.

Fazit und Ausblick

Im Sozialbereich, wie in nahezu allen anderen Bereichen auch, haben durch die Covid-19-Pandemie fundamentale digitale Entwicklungen stattgefunden. Diese wirkten sich aus auf das Kommunikationsverhalten und die Kontakte in den Teams, aber auch mit den Klientinnen und Klienten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Wandel nur temporär zur Bewältigung der Krise stattgefunden hat oder ob sich die Entwicklungen auch in Zukunft weiter fortschreiben werden. Viele digitale Anpassungen haben unter grossem zeitlichem Druck stattgefunden. Die Praxisorganisationen der Sozialen Arbeit tun gut daran, wenn sie ihre Erfahrungen hinsichtlich des Nutzens detailliert auswerten und in die Planung einbeziehen. Diesen Fragen werden weitere Erhebungen im Rahmen des Forschungsprojektes nachgehen.

through2gether wird fortgesetzt

In der Studie interessieren nicht nur die kurzfristigen digitalen Anpassungen an die Erfordernisse durch die Pandemie, sondern auch die langfristigen Auswirkungen, welche dieser Wandel mit sich bringt. Es ist daher geplant in einer zweiten und dritten Befragung (Ende Juni 2021 und Sommer 2022) diese Auswirkungen zu erforschen.
Sind Sie interessiert an einer Teilnahme an der Studie oder möchten mehr über das Forschungsprojekt erfahren können Sie sich gerne an Roger Kirchhofer oder Christine Mühlebach wenden.


Autor*innen

ROGER KIRCHHOFER

Roger Kirchhofer, lic, phil., Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten

T: +41 62 957 20 83
roger.kirchhofer@fhnw.ch 

SARAH BESTGEN

MA in Social Sciences, Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten

T: +41 62 957 21 01
sarah.bestgen@fhnw.ch

CHRISTINE MÜHLEBACH

MSc Soziale Arbeit, Produktmanagerin Digitalisierung beim Verein sozialinfo.ch, Bern

T: +41 78 404 75 32
christine.muehlebach@sozialinfo.ch


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