Als Assessorin möchte ich so viel wie möglich von meinem Gegenüber erfahren, damit ich relevante Schlussfolgerungen für die Passung zwischen Person und künftiger Position in der Firma ziehen kann. Genauso will der Kandidat oder die Kandidatin bewusst Informationen vermitteln, um mich von eben dieser Passung zu überzeugen. Das wertvolle Gut, das es auszutauschen gilt, heisst also Information. Die gemeinsame Plattform für diesen Informationsaustausch ist die Beziehungsgestaltung am Assessment-Tag.

Von Maja Goedertier, Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie

Es ist früh am Morgen. Alle meine Antennen sind auf Empfang, und ich hole meinen heutigen Assessment-Kandidaten im Warteraum ab. Neugier, eine gesunde Portion Humor und die Vorfreude auf einen einzigartigen Menschen begleiten mich in den Wartesaal. Für mein Gegenüber ist dies meist ein Moment purer Anspannung. Der erste Eindruck, den er oder sie von mir bekommt, und meine einführenden Worte haben bereits Einfluss auf den Einstieg in den kommenden Assessment-Tag. Meine erste Aufgabe ist es deshalb, mein Gegenüber mitzunehmen und in die Zusammenarbeit einzuladen. Dabei ist eine offene und unvoreingenommene Haltung der Assessoren prägend für das Gelingen des gemeinsamen Assessmenttages.

Die rollenbezogene Beziehungsgestaltung

In meinem Fokus stehen die Begegnung und das Kennenlernen meines Gegenübers. Dabei oszilliere ich ständig zwischen dem Aufbau von Vertrauen auf der Beziehungsebene und dem objektiven Diagnostizieren auf der Sachebene. Ich registriere Befindlichkeiten und kläre diese, um den gemeinsamen Einstieg zu erleichtern. Hier zeigt sich rasch, wie leicht ich mit der Person ins Gespräch komme und mit welcher Leichtigkeit – oder nicht – sie dieses mitgestaltet. Als Assessorin ist es mir ein Anliegen, dass sich mein Gegenüber wohl fühlt, damit es sich mit seinen Qualitäten, Fähigkeiten und Ressourcen zeigen kann. Dies kommuniziere ich auch so und fordere dazu auf, persönliche Bedürfnisse offen zu äussern. Wir steigen in die Abklärung ein, indem ich erzähle wer wir sind, wie wir arbeiten und wie der gemeinsame Assessment-Tag in etwa verlaufen wird. Um erste Anspannungen zu lösen, spreche ich zu Beginn bewusst mehr als mein Gegenüber. Wichtig ist die Klärung meiner Rolle als psychologische Diagnostikerin, meines Verhältnisses zum potenziellen Arbeitgeber der Kandidaten und die Betonung dessen, was mein Auftrag ist: die Beschreibung der Passung mit der vorgesehenen Stelle. Für die meisten Kandidatinnen und Kandidaten ist mein Auftrag mit Hoffnungen, Wünschen und Träumen bezüglich ihrer Zukunft verbunden. Daher liegt es in der Natur der Sache, dass mein Gegenüber angespannt, vielleicht sogar nervös ist.

Um das Eis zu brechen, hole ich bestehende Erfahrungen mit Assessments ab und bespreche diese sowie etwaige Unterschiede zu unserer heutigen Begegnung und unserem Vorgehen an diesem Tag. Obwohl sich die Beziehung zwischen Assessor und Assessee an wechselseitigen Rollenerwartungen ausrichtet, sind wir im Grunde einfach erst einmal zwei Fremde, die eine Weile benötigen, um ein uns eigenes Interaktionsmuster zu etablieren. Von mir wird meistens kritisches Hinschauen erwartet, und von meinem Gegenüber erwarte ich die Bereitschaft, sich auf unsere Beziehung einzulassen. So ist dann auch meine Beziehungsgestaltung mit bestimmten Erwartungen an mein Interaktionsverhalten gebunden. Es ist eine Gratwanderung wie persönlich unsere Interaktionen werden. Wie tief unser Austausch wird, überlasse ich dabei meinem Gegenüber. Ich hingegen reagiere auf persönliche Eigenheiten oder Erfahrungen, die mein Gegenüber mir erzählt, mit gezieltem Nachfragen. So unterstütze ich ihn oder sie dabei, sich schrittweise zu öffnen und sich Raum für die Präsentation der eigenen Persönlichkeit zu nehmen. Unsere Beziehung ist jedoch nicht nur durch unsere Persönlichkeiten determiniert, sondern gleichzeitig auch bestimmt durch zusätzliche Teilnehmende am Assessment und die gewählten Aufgaben. Auch diese Aspekte bezeichnen den weiteren Aufbau unserer Beziehung. Einflüsse von Dritten können den weiteren Verlauf verändern, manchmal sogar einfrieren. Somit ist es zu Beginn des Tages immer schwierig vorauszusagen, wie unser gemeinsame Tag sich entwickelt. Was für mich heisst, dass ich den Assessment-Tag nicht bis ins letzte Detail vorbereiten kann, sondern mich ebenso wie mein Gegenüber auf die Beziehung einlassen und spontan reagieren muss. Im besten Fall ergänzen sich die konstruktive Beziehungsgestaltung und die gegenseitigen Erwartungen. So können Persönlichkeitsmerkmale sichtbar werden und es entsteht eine tragfähige Beziehung für das Assessment.

Authentizität ist die Grundlage

Damit eine Diagnostikerin professionell arbeiten kann, sollte sie in der Begegnung offen und authentisch auftreten. Von mir ist also nicht nur psychologisches Fachwissen gefragt, sondern ebenso Bewusstsein über meine eigenen Wertvorstellungen, Sympathien und Antipathien. Diese gilt es für jeden Assessor und jede Assessorin in der neu entstehenden Beziehung immer wieder zu reflektieren. Nur wenn ich meine eigenen Werte und Handlungsmuster kenne, kann ich ER-kennen, was tatsächlich zu meinem Gegenüber gehört. Meine vorbereitende Aufgabe ist es demnach, mir meiner Eigenheiten und Vorlieben bewusst zu sein, um die am Assessment-Tag entstehenden Wahrnehmungen und Eindrücke von meinem Gegenüber verstehen und in den gegebenen Kontext stellen zu können. Denn entscheidend für den Verlauf des Tages ist auch, wie mein Gegenüber seinen Tag persönlich erlebt und sich einbringen kann. Was die Qualität der Begegnung positiv beeinflusst, sind freundliches und verständnisvolles Verhalten, ebenso wie ermutigendes und direktives Handeln meinerseits. Daneben wirkt jedoch das Selbstbild, welches mein Gegenüber von sich hat, ebenso stark auf unsere Begegnung, und damit auf die Qualität meiner Datensammlung.

Das Ziel eines Assessors sollte es sein, Akzeptanz für die gegebene Situation zu schaffen, denn Akzeptanz ist für jede erfolgreiche Zusammenarbeit unentbehrlich. Sobald sich mein Gegenüber einer fairen Betrachtung seiner selbst sicher sein kann, sind die Grundlagen für ein offenes Miteinander gelegt, und wir können gemeinsam arbeiten. Darum versuche ich aufzuzeigen, dass ich gleichzeitig Dienstleistungszentrum sowie auch «emotionales Zwischenlager» für mein Gegenüber bin. Nur so kann eine gute Vertrauensbasis entstehen. Meist trägt meine humorvolle und gleichzeitig respektvolle Haltung dazu bei, meine Freude an der Arbeit zu transportieren. Wenn mein Gegenüber dann merkt, dass ich ihn als Mensch unvoreingenommen mag und unsere Gesprächsbasis auf Ehrlichkeit, Respekt, Zuversicht und Anteilnahme basiert, beginnen die Informationen einfacher zu fliessen. Die psychologische Betrachtung lehrt mich, dass wenn ich auf irgendeine Form von Widerstand stosse, ich möglicherweise auf wichtige Aspekte gestossen bin, die für mein Gegenüber wertvoll sind, und die es zu beachten und zu schützen gilt. Durch den Widerstand sind diese jedoch nicht für mich zugänglich, was die Einordnung erschwert. Schaffe ich es, diesen Widerstand durch die Form meiner Beziehungsarbeit und Beziehungsgestaltung aufzulösen, kriege ich treffende Aussagen für meinen späteren Bericht. Dazu brauche ich natürlich auch die Unterstützung und Offenheit des Gegenübers. Wenn wir es also gemeinsam schaffen, eine tragfähige gemeinsame Plattform der Zusammenarbeit herzustellen, können Gefühle der (Selbst-)Bedrohung reduziert werden und etwaige Selbstschutzstrategien abgebaut werden.

Respekt von der Einzigartigkeit

Am Assessment-Tag reihen sich interaktive Aufgaben an computergestützte Testverfahren und verschiedene Fragerunden. Jedes Instrument schafft neue Informationen zu Tage, die es für mich in den Kontext zu stellen und zu integrieren gilt. Auch mein Gegenüber muss viele neue Eindrücke verarbeiten. Die Aufgaben, das Gefühl, beobachtet und beurteilt zu werden, die Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Ressourcen. Wenn sich der Assessment-Tag dem Ende zuneigt, entwickelt sich mehr und mehr ein ganzheitliches Bild der Einzigartigkeit meiner Kandidaten. Was ich suche, ist nicht die Wahrheit, sondern Informationen darüber, wie meine Gesprächspartner ihre Realität erleben. Dieses Erleben hat Einfluss auf ihre Arbeitsfähigkeit und ihr Verhalten im Arbeitsalltag. Um ihre Geschichten zu erfahren, übe ich mich im offensiven Zuhören, damit ich alle – auch die allerkleinsten – Zwischenbotschaften, die mein Gegenüber mir sendet, mitkriege. In jeder Lebensbiografie sind Erfolge begleitet von Niederlagen, von Geschmeidigkeit und Brüchen, das gehört dazu. Beeinflusst werden diese Faktoren vom persönlichen Umfeld, von der bisherigen Arbeitserfahrung und von der Gesellschaft, in der sich die Kandidaten bewegen. Werte, Vorstellungen und Motivationen, dürfen sich ebenso zeigen wie Eigenschaften, Ambitionen und die Verarbeitung von Erlebtem.

Mein Interesse besteht darin, die Eigenheiten einer jeden Person so differenziert zu erfassen und verstehen, dass deren Einzigartigkeit sichtbar wird. In der Regel ist meinem Gegenüber die Anstrengung der Auseinandersetzung mit sich selbst gegen Ende des Tages anzumerken. Die einen kostet es viel Energie, die anderen weniger. Einige brauchen mehr Mut als andere, Persönliches preiszugeben. Zum Schluss werden die Kandidaten durch die Auseinandersetzung mit sich und die Mitarbeit mit mir mit Erkenntnissen über sich selbst belohnt. Manchmal erkennen sie bereits am Ende des Tages neue persönliche Entwicklungsfelder für ihre Zukunft. Ob sie den Job danach bekommen oder nicht: Die Erkenntnisse über sich selbst sind von unschätzbarem Wert für ihren weiteren Weg.

Maja Goedertier ist Psychologin und Beraterin am IAP Institut für Angewandte Psychologie im Bereich Managementdiagnostik und Sicherheitspsychologie. Seit ihrem Studium in Arbeits- und Organisationspsychologie arbeitet sie als beratende Psychologin für Unternehmen in den Bereichen Assessment, Potenzialabklärung, Standortbestimmung, Neuorientierung und Coaching von Personen in Veränderungsprozessen. Ihr Arbeitsschwerpunkt am IAP ist die psychologische Eignungsdiagnostik von Führungspersonen sowie Personen in sicherheitssensiblen beruflichen Kontexten.


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