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Darf ein dementer Patient gegen seinen Willen behandelt werden?

Ethische Fragen treten immer wieder im Alltag von Gesundheitsfachpersonen auf. Zum Beispiel möchte ein dementer Patient nicht von der Physiotherapeutin behandelt werden oder eine Patientin lehnt eine Gelenksmobilisation ab, da diese schmerzt. Die Dozentin Muriel Keller bietet in ihrem Buch «Ethik für medizinische Berufe» ein Analyseinstrument, das dabei hilft, die oft abstrakten Ethiktheorien auf konkrete Konfliktsituationen mit Patientinnen und Patienten herunterzubrechen.

Wieso gehört das Thema Ethik zur Grundausbildung im Bachelorstudiengang Physiotherapie?

Die Medizin hat rasante Fortschritte gemacht. Heute sind Organtransplantationen möglich, ein Organismus kann auch ohne Hirn am Leben gehalten und sogar der Tod kann in gewissen Fällen hinausgezögert werden. Diese Möglichkeiten werfen ethische Fragen auf. Darum hat die Bedeutsamkeit von Ethik im Gesundheitswesen in den letzten Jahren zugenommen. Viele Institutionen haben sogar eine Fachperson für klinische Ethik angestellt, das gab es vor 20 Jahren noch nicht.

Doch nicht nur die Medizin hat Fortschritte gemacht, auch der Umgang mit den Patienten hat sich verändert. Früher haben vor allem die Ärzte bestimmt. Heute hat der Wille des Patienten an Stellenwert gewonnen und viele Entscheide werden im Behandlungsteam getroffen. Zu diesem gehört auch die Physiotherapie.

Dazu ein Beispiel: Eine ältere Patientin möchte aus dem Spital austreten. Sie ist aber sturzgefährdet. Darf sie gegen ihren Willen im Spital behalten werden? Das Behandlungsteam aus Ärzten, Pflegenden, Therapeuten und Vertretern weiterer Berufsgruppen trifft gemeinsam eine Entscheidung. Der Physiotherapeut muss in diesem Fall die Gangsicherheit einschätzen.

Es braucht einen gewissen Ausbildungsstand, um genügend Fachwissen für ein solches Gespräch zu haben. Darum gehört Ethik an der ZHAW in der Physiotherapie zur Grundausbildung. In den altrechtlichen Ausbildungen war das nicht so. 

Sie haben ein Buch über Ethik für medizinische Berufe geschrieben. Was gab Ihnen den Anstoss dazu?

Ethiktheorien sind im Berufsalltag nicht einfach anzuwenden, denn sie sind extrem abstrakt. Viele Fragen sind ungeklärt oder es gibt nicht nur eine richtige Antwort. Was gilt zum Beispiel als oberstes Moralprinzip? Das Abstrakte auf die konkrete Situation mit dem Patienten herunterzubrechen, ist oft schwierig.

Damit Ethik für die Studierenden fassbar wird, haben wir Dozierende für Ethik im BSc Physiotherapie ein Analyseinstrument entworfen. Damit lernen die Studierenden, unterschiedliche Situationen zu beurteilen. Dürfen beispielsweise Patienten, die dement sind, im Halbwachkoma liegen oder sich aus anderen Gründen nicht zur geplanten Therapie äussern können, auch ohne gültiges Einverständnis behandelt werden? Falls ja, unter welchen Umständen? Wie müssen nonverbale Signale gewichtet werden? Darf eine Therapie durchgeführt werden, wenn sie medizinisch notwendig ist, die Patientin die Behandlung aber ablehnt?

Das Instrument stiess auf viel Interesse. Ethik war ja bisher kaum ein Thema in der Ausbildung. Trotzdem tauchen die Fragen im Berufsalltag auf. Das gab Ivo Wallimann-Helmer und mir den Anstoss, das Buch zu schreiben. Wir haben die Texte immer wieder den Studierenden abgegeben. An ihrer Reaktion konnten wir ablesen, ob wir verständlich geschrieben haben. Wenn nicht, haben wir die Passagen nochmals überarbeitet. So hat sich das Buch entwickelt.

Was ist die wichtigste Botschaft, die Sie Ihren Studierenden zum Thema Ethik mitgeben möchten?

Physiotherapeuten sind wenig bei Entscheidungen über Leben und Tod involviert. Beispiele für Ethik im Arbeitsalltag gibt es trotzdem viele. So möchten sich einige Patienten nicht ausziehen oder sie möchten nicht berührt werden. Gewisse Techniken, wie die Triggerpunktbehandlung, können schmerzen. Über dieses Risiko müssen Patienten aufgeklärt werden. Wenn sie nicht behandelt werden möchten, muss das respektiert werden, auch wenn es aus physiotherapeutischer Sicht sinnvoll wäre. Gesundheitsfachpersonen lernen den für die Genesung medizinisch richtigen Weg kennen. Patienten aber können eine andere Vorstellung davon haben, was gut für sie ist. Darum entspricht ihr Verhalten vielleicht nicht den Erwartungen des Therapeuten. Ich möchte deshalb die Studierenden für die Wahrnehmung und das Akzeptieren von unterschiedlichen Sichtweisen sensibilisieren. Denn Patienten dürfen nicht nur auf ihr Gesundheitsproblem reduziert werden.

Zudem möchte ich den Studierenden weitergeben, dass sie ihr Bauchgefühl ernst nehmen. Viele merken, dass etwas nicht stimmt, fühlen sich in einer Situation nicht wohl. Wie sollen sie mit solchen Irritationen umgehen? Ich ermuntere die Studierenden, im Zweifelsfall das Gespräch im Team zu suchen. Dabei ist wichtig, zu erkennen, dass nicht jede schwierige Situation ein ethisches Problem ist.

Muriel Keller ist Dozentin für Ethik, Neuromotorik und Sensorik und arbeitet als Physiotherapeutin am Universitätsspital Zürich. Zusammen mit Ivo Wallimann-Helmer hat sie das Buch «Ethik für medizinische Berufe» geschrieben, eine Entscheidungshilfe für ethische Fragestellungen.

Zum Porträt von Muriel Keller