The Bubble

Unter der Glasglocke: Valerie Blankenbyl wirft mit ihrem Dokumentarfilm «The Bubble» einen Blick hinter die Kulissen der «Villages» von Florida, der grössten Seniorenresidenzen des Landes und liefert damit auch etwas über das Bewusstsein im Lande.
The Bubble

Religiös patriotisches Meeting zum Auftakt

«The Bubble» hiess ein Film, des Israeli Eytan Fox 2006 über junge Leute in Tel Aviv mit ihren coolen und trendigen Parties. So wenig wie möglich wollen diese erfahren, was Israel den Palästinensern antut, und sie schliessen sich unter einer Glasglocke ein. Der erfolgreiche Film löste damals Diskussionen aus. – Nun ist der gleichnamige, 2020 als Schweizer Produktion von der Österreicherin Valerie Blankenbyl realisierte Film über eine ähnliche «Bubble» entstanden, jener der Bevölkerung der amerikanischen «Villages», die sich ebenfalls von der übrigen Welt abschliesst, ihr Leben geniesst, um nicht zu sehen, was rund um sie in Amerika und auf der Welt geschieht.

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Linda, eine richtige Lady des «alten Florida»

«Florida’s Friendliest Active Adult 55+ Retirement»

Unter der strahlenden Sonne Floridas gibt es einen Ort, an dem man sein Leben auf angenehmste Weise um zehn Jahre verlängern kann, mit 54 Golfplätzen, 96 Swimmingpools, unzähligen Freizeitanlagen und Clubs. Ab 80‘000 Dollar ist hier ein Haus mit Garage und Vorgarten zu haben und für monatlich 140 Dollar ist man überall dabei. «Floridas Friendliest Active Adult 55+ Retirement» heisst es in der Reklame für dieses Seniorenparadies, wo 150‘000 Silver Agers leben, deren Happy Hour schon um 11 Uhr vormittags mit Bauchtanz, Synchronschwimmen oder Karaoke beginnt. «Wir wissen, dass wir in einer Bubble leben», meint Toni, die seit 17 Jahren hier wohnt, «aber es ist eine schöne Bubble».

Hinter gut bewachten Eingangstoren leben sie in der weltgrössten Seniorenstadt, in der man nie daran erinnert wird, wie alt man ist; denn wo alle alt sind, existiert das Alter nicht. Friedhöfe, die diesen Eindruck zerstören könnten, gibt es nicht, und wenn die Ambulanz kommt, wird die Sirene abgeschaltet. Der unterhaltsame und informative Film der 1984 in Wien geborenen Valerie Blankenbyl führt hinein in eine fast surreal anmutende Retortenstadt, in der nicht nur alle gleich alt, sondern auch gleich gesinnt sind, in die «Villages», wo ein von Konsumismus geprägter, sorgloser amerikanischer Lifestyle propagiert und exzessiv ausgelebt wird. «Das eben ist der Kapitalismus», meint eine Bewohnerin.

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Trommeln als Animation

Ein soziales Experiment

In den frühen 80er-Jahren wurden «The Villages» von Harold Schwarz als Wohnwagensiedlung gegründet und bis heute als Unternehmen der Familie Morse, seinen Enkeln, geführt: mit dem Ziel, den Senioren das Leben zu verschönern – oder eventuell eher, um viel Geld zu verdienen? Fast identische, in Pastelltönen gehaltene Einfamilienhäuser mit weiss gestrichenen Zäunen und perfekt gemähten Rasen erstrecken sich über 142 km². Das Rentnerparadies ist eine Mischung aus privat geführtem Unternehmen und behördlich organisierter Kleinstadt: eine Eigenart der Gesetzgebung in Florida, die speziell für den Bau solcher Siedlungen geschaffen wurde und die Alterssegregation, im Widerspruch zur Verfassung, zulässt. 98,4 % der Alten sind weiss, zwei Drittel Republikaner, die meisten haben 2016 Trump gewählt. Die «Villages» gelten als Zufluchtsort für Blue-Collar-Workers, die nach Jahren harter Arbeit jetzt wie Könige leben wollen. Menschen unter 55 dürfen sich nicht niederlassen, lediglich maximal 30 Tage pro Jahr zu Besuch kommen. Zum Einkaufen fahren die Senioren in ihren Golfcarts zu den nahe gelegenen Einkaufsmeilen, die alle der Familie Morse gehören.

Jeannie und John leben hier während sechs Monaten im Jahr. Nach einer schief gegangenen Operation, die Teile ihres Gesichts gelähmt hatte, ist Jeannie hier wieder aufgeblüht, geht in die Bauchtanzgruppe und hat neues Selbstbewusstsein gefunden. Sie sind sich selbst genug. Die Unabhängigkeit von ihren Kindern ist ihnen sehr wichtig, und das Leben in der Rentnerstadt gibt ihnen diese. Mit Johns sich verschlechterndem Gesundheitszustand hat diese Unabhängigkeit jedoch ein Ablaufdatum. «Die Rentnersiedlungen füllen die Lücke, die die Familien hinterlassen», meint John – und könnte damit auch uns in der gerontologisch ziemlich anders tickenden schweizerischen Altersszene einen herausfordernden Beitrag liefern.

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Terry, seit 12 Jahren Präsident des Waffenclubs

Bewohnerinnen und Bewohner erzählen

Toni und Roger sind neu in den «Villages» und kosten aus, was diese zu bieten haben. In türkisfarbigem Partnerlook werden Kurse ausprobiert, Restaurants und Golfplätze besucht, neue Freunde gefunden. Trotz ihres bisherigen Lebens als Globetrotter und Karrieremenschen sind sie in diesem etwas sehr monotonen Ressort zufrieden und mit ihren vielen sozialen Aktivitäten mehr als ausgelastet. Hinterfragt haben die beiden den neuen Lebensstil noch nicht. Bei genauerem Hinsehen, meinen sie, kommen sie vielleicht nicht umhin, sich dazu einmal Gedanken zu machen.

Lauren Ritchie, die Kolumnistin des «Orlando Sentinel», der Lokalzeitung, hat das Wachsen der «Villages» über die Jahre kritisch beobachtet, mit trockenem Humor und dicker Haut schreibt sie vor allem über finanzielle Besonderheiten der Rentnerstadt und die Besitzerfamilie, die durch diese Werke Millionärin wurde. Linda, eine richtige Lady des «alten Florida», Besitzerin eines Waffen- und Schmuckgeschäfts, profitiert einerseits von den Veränderungen, welche diese mit sich brachten, betrachtet diese anderseits mit einem Hauch von Nostalgie.

Es sind ein paar wenige, die der Filmcrew Red und Antwort gestanden haben. Das Management verweigerte sich den Anfragen der Regisseurin und forderte die Bewohner auf, den Kontakt mit der Crew zu meiden, den Angestellten waren Stellungnahmen verboten. Dass sie dennoch drehen konnte, liegt daran, dass die Strassen und Plätze der Gated Community als öffentliches Gelände jedermann zugänglich sind und eine Dreherlaubnis sich erübrigt. Valerie Blankenbyl geht in ihrem Film unaufgeregt und freundlich, neugierig und mit Empathie an die Menschen heran. Und gleichwohl kratzt der Film am Lack dieser absurd anmutenden Utopie.

«The Villages», so erklärt es die Lokaljournalistin, welche die Entwicklung seit Jahren beobachtet, seien ein riesiges soziales Experiment. Im Film übernimmt sie die Rolle der Wortführerin der ansässigen Bevölkerung, obwohl sie von der Residenz seit Jahren profitiert, zunehmend aber besorgter und wütender beobachtet, wie deren ständige Erweiterung und der verschwenderische Lebensstil der Insassen nicht nur zur Gentrifizierung führen, sondern auch das Ökosystem nachhaltig stören. Rund um die Uhr berieselt dafür ein Radiosender, der Fox-News gehört, die Bewohner mit geeigneter Unterhaltung und Information.

Dieses überdimensionierte Domizil ist ein Ort, an dem man unter sich ist und seinen Hobbys frönen kann: ein künstliches Konstrukt, das die Welt und ihre Widrigkeiten draussen lässt. Die Menschen, die sich hier niederlassen, haben ihr Leben lang hart gearbeitet und wollen sich nicht mehr mit den Sorgen der Welt befassen. So leben sie in der eigens für sie kreierten Glasglocke vor sich hin: «Die Arbeit ist getan, nun kommt das Vergnügen.»

Das Konzept ist ein Riesenerfolg und die Nachfrage nach Wohneigentum nimmt stetig zu. Unermüdlich wird weitergebaut und die Siedlung breitet sich krebsartig aus. Nicht alle sind von diesem Erfolg begeistert. Die Nachbarn haben Angst vor der Verdrängung und kämpfen dafür, ihr Land nicht zu verlieren. Ausserdem zollen der immense Wasserverbrauch und die Anwendung von Chemikalien gegen Insekten ihren Tribut. Der Schaden für Flora und Fauna ist langfristig kaum noch abzuwenden.

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Toni und Roger, neu zugezogen und happy

Berechtigte Hoffnung auf Diskussionen

Für einen Augenblick lade ich Sie ein, sich von den Aussagen der «Villages»-Bevölkerung zu lösen und sich auf Aussagen von Schweizerinnen und Schweizern zu konzentrieren, die sich sinngemäss und mit ähnlichen Worten zum Thema der Abschottung aus der Gesellschaft äussern: «Ich schaue die Tagesschau nicht mehr; ich höre keine Radionachrichten; ich will mir nicht die Laune verderben lassen; ich will den Tag positiv beginnen und vor allem das Gute sehen.» Eine gewisse Verwandtschaft dieser Sätze mit den Sätzen der Menschen unter der Bubble von Orlando scheint offensichtlich, vergleichbar auch mit den Aussagen aus der israelischen Bubble. In diesem Sinne bietet der neue Film von Valerie Blankenbyl Gelegenheit, uns selbst zu hinterfragen – in der Annahme, dass es nicht nur Schwarz und Weiss gibt, sondern auch Grau und sogar die Buntheit des Lebens.

Rückblickend auf «The Bubble» aus Israel, gibt es für mich berechtigte Hoffnung, dass «The Bubble» von Valerie Blankenbyl bei uns eine breite Diskussion auslösen dürfte: über die persönliche Gestaltung des Alters, über gesellschaftlichen Alterskonzepte, über Segregation oder Integration, über die Rollen der Generationen – und schliesslich die Ideologien, die mit den getroffenen Entscheiden gefördert oder verhindert werden.

The Bubble: Anmerkungen der Regisseurin Valerie Blankenbyl und der Produktion

Regie: Valerie Blankenbyl, Produktion: 2021, Länge: 92 min, Verleih: Frenetic