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«Massnahmen zur Stressreduktion wirken sich positiv aus - auch auf den Unternehmenserfolg»

Der Stress am Arbeitsplatz nimmt stetig zu, nicht erst seit der Corona-Pandemie. In ihrem Berufsalltag als Leiterin des betrieblichen Gesundheitsmanagements des ZHAW-Departements Gesundheit hat Irene Etzer-Hofer oft mit diesem Thema zu tun. Im Interview spricht sie über die Beschleunigung unseres Lebens und erläutert, warum der Umgang mit Stress in den Unternehmen thematisiert werden sollte.

Irene Etzer-Hofer, warum nimmt der Stress in der Arbeitswelt zu?

Unser Leben wird immer schneller, ist eng getaktet: Beschleunigung, zunehmende Informationsflut und Digitalisierung verändern Arbeit und Privatleben erheblich. Das sorgt für zunehmenden Stress. Gemäss mehreren wissenschaftlichen Studien hat der Stress nicht nur in der Arbeitswelt, sondern in allen Lebensbereichen zugenommen. Das Tempo dieser Entwicklungen stellt Menschen und Organisationen vor neue Herausforderungen. Fachkräftemangel und Ökonomisierung, also die zunehmend wirtschaftliche Ausrichtung von sozialen Bereichen, sind zusätzliche Stressverstärker.

Warum trägt die Digitalisierung zum zunehmenden Stress bei?

Unsere Arbeit ist flexibler geworden. Das hat den Vorteil, dass wir selbstbestimmter arbeiten können – zeitlich wie örtlich. Auf der anderen Seite verschwimmen dadurch zunehmend die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Aufgrund ständiger Erreichbarkeit, zu kurzer Erholungszeiten und fehlender Abgrenzung steigen die Arbeitsbelastung und damit auch das Risiko bezüglich Selbstgefährdung. Vermehrter Stress ist eine der Folgen. Verschiedene Studien zeigen: Durch die Digitalisierung hat sich das Verhältnis von Belastungen und Ressourcen bei der Arbeit verändert. Das heisst: Die geringer werdenden Erholungsmöglichkeiten können positive Komponenten wie interessante Arbeitsaufgaben, anregendes Arbeitsklima oder Entwicklungsmöglichkeiten immer weniger gut kompensieren. Sowohl Mitarbeitende wie auch Unternehmen müssen neue Wege suchen, mit diesen Herausforderungen umzugehen.

Welche Auswirkungen hat Stress auf die Gesundheit?

Wir halten Stress ganz gut aus, wenn wir genügend Erholungsphasen haben. Punktueller Stress ist sogar positiv, er hilft uns, unsere inneren Ressourcen zu aktivieren. Wenn das Stresslevel aber zu lange hoch bleibt und die Erholungsphasen zu kurz sind, hat Stress gesundheitsschädigende Auswirkungen. Es können Krankheiten mit unterschiedlichen körperlichen Symptomen entstehen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, verspannte Muskulatur, Magen-Darm-Beschwerden oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem wird das Immunsystem geschwächt, der Körper wird anfälliger für Infektionskrankheiten. Auch auf die Psyche hat Stress grosse Auswirkungen: innere Anspannung, Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, gedrückte Stimmung oder gar Depressionen und Burnout können die Folgen sein. Da sich psychische und körperliche Auswirkungen oft gegenseitig verstärken, geraten viele Menschen in eine gesundheitliche Abwärtsspirale. Um aus dieser herauszukommen, braucht es oft therapeutische und medizinische Begleitung.

Welche Strategien gibt es für Arbeitnehmende, um mit der zunehmenden Beschleunigung und dem Druck in der Arbeitswelt gezielt umzugehen?

Erholung und regelmässige Pausen sind sehr wichtig! Ganz allgemein ist es hilfreich, gut mit sich selbst in Kontakt zu sein und das eigene Mass für gesundes flexibles Arbeiten zu definieren. Aufgaben priorisieren, bewusst stressfreie Zeiten und körperliche Aktivitäten einplanen – das baut Druck ab und fördert die Erholung erwiesenermassen. Mit Achtsamkeitsübungen lernt man zudem, Stresssituationen frühzeitig zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Soziale Kontakte sind äusserst gesundheitsförderlich – sie stärken uns und können viele Belastungen kompensieren. Bei der Gestaltung von gesundem Arbeiten ist also ganzheitliches Selbstmanagement gefragt: sich klar werden, was einem wirklich wichtig ist und was guttut – und die dafür nötigen Anpassungen im Arbeitsalltag umsetzen.

Welche Möglichkeiten haben die Firmen, ihre Arbeitnehmenden vor zunehmendem Stress zu schützen?

Den negativen Folgen der Arbeitsflexibilisierung sollten die Unternehmen aktiv entgegensteuern. Meine langjährige Erfahrung im betrieblichen Gesundheitsmanagement zeigt mir immer wieder: Es wirkt sich positiv auf den Unternehmenserfolg aus, wenn Massnahmen zur Stressreduktion aufgegriffen werden. Das können zum Beispiel Unterstützungsangebote und Konzepte sein, die bei den nötigen Selbstmanagement-Kompetenzen ansetzen. Oder gezielte Gespräche mit Mitarbeitenden. Die Grenze zwischen Herausforderung und Stress ist individuell. Was für den einen sinnvolle und motivierende Arbeitsgestaltung ist, kann für den anderen bereits Überforderung bedeuten. Solche Themen aktiv zur Sprache zu bringen – mit Einzelpersonen wie auch im Team –, ist eine wichtige Aufgabe der Führungskräfte. Auch deren Vorbildfunktion, das heisst, was den eigenen Umgang mit Stress betrifft, spielt eine wichtige Rolle. Das alles reicht jedoch nicht aus. Es braucht auch eine allgemeine Weiterentwicklung der Unternehmenskultur, die Vertrauen aufbaut und Rahmenbedingungen festlegt, die der Ausgewogenheit von Belastungen und Ressourcen dienen.

Was kann der Staat unternehmen, um die Arbeitnehmenden vor Stress zu schützen?

Es gibt eine Verpflichtung zum Gesundheitsschutz von Arbeitnehmenden, der unter anderem im Arbeitsgesetz und im Unfallversicherungsgesetz geregelt ist. Demnach soll der Arbeitsablauf so gestaltet sein, dass Gesundheitsgefährdungen und Überbeanspruchungen nach Möglichkeit vermieden werden. Aus Sicht des betrieblichen Gesundheitsmanagements ist es sicher sinnvoll, dass sich die erlaubten Arbeitszeiten nicht zu stark ausweiten, um genug Erholungszeiten zu ermöglichen. Politische Impulse zu wichtigen Arbeitsthemen, wie zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder zur Verminderung des Fachkräftemangels, können den Belastungen in der Arbeitswelt entgegenwirken. Zudem können nationale Programme zur Prävention und Gesundheitsförderung – im Speziellen auch zum Umgang mit Stress – die Bevölkerung für dieses Thema sensibilisieren.

Wie steht die Schweiz bei den Arbeitsbedingungen im Vergleich mit anderen europäischen Staaten da?

Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, da Rahmenbedingungen und Schwerpunktsetzungen der Länder zu den verschiedenen Arbeitsthemen sehr unterschiedlich sind. Die Ergebnisse der «Europäischen Erhebungen über die Arbeitsbedingungen 2015» zeigen im Grundsatz, dass sich die Arbeitsbedingungen in der Schweiz nicht wesentlich vom europäischen Durchschnittsniveau der Nachbarstaaten Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich unterscheiden. Zwei Ergebnisse weisen jedoch auf wichtige Aspekte für die Zukunft hin: Vollzeiterwerbstätige müssen in der Schweiz 42 Stunden pro Woche arbeiten, in den EU-Staaten durchschnittlich 39. Zusätzlich gibt es bei uns häufiger kurzfristige Änderungen der Arbeitszeiten. Dies kann die Plan- und Gestaltbarkeit der arbeitsfreien Zeit behindern und die Erholungszeiten verkürzen. Auch aus diesem Grund ist die Sensibilisierung der gesamten Gesellschaft auf Gesundheitsgefährdung und Stress bei der Arbeit weiterhin wichtig.

Irene Etzer-Hofer
Leiterin Fachstelle Betriebliches Gesundheitsmanagement