«Besser statt mehr» – wie Psychologie bei Megatrends unterstützen kann

Psychologie spielt in vielen Bereichen unseres Alltags eine zentrale Rolle. Auch bei aktuellen Veränderungen, dem gesellschaftlichen Wandel und den damit verbundenen Herausforderungen kann sie mit Lösungsansätzen unterstützen. Wie? Das lesen Sie in diesem Beitrag am Beispiel der Megatrends Neo-Ökologie und Silver Society.

Von Christoph Negri und Maja Goedertier

Menschen hatten schon immer das Bedürfnis, die Zukunft vorauszusehen. Eine Möglichkeit ist die Zukunftsforschung, welche neue Entwicklungen in der Gesellschaft und Wirtschaft beobachtet, beschreibt sowie bewertet und so auch Megatrends skizziert. Megatrends sind bedeutende Treiber des Wandels, bilden die Grundlage für die Entwicklung ganzer Wirtschaftsbereiche und sind häufig eine wichtige Quelle für Unternehmensstrategien (vgl. Zukunftsinstitut 2022 ).

Die Angewandte Psychologie spielt in vielen Bereichen unseres Alltags und auch im gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel eine wesentliche Rolle. Dabei kann die Angewandte Psychologie die aktuellen Veränderungen und Bedürfnisse erfassen und die Menschen sowie die Organisationen bei der Entwicklung passender Lösungsansätze für die vielen komplexen Herausforderungen unterstützen. In diesem Beitrag werden anhand der zwei Megatrends Silver Society und Neo-Ökologie die damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungsfelder skizziert und der Beitrag, den die Angewandte Psychologie für Lösungsansätze leisten kann, beschrieben.

Was sind Megatrends?
Das Zukunftsinstitut (2022) erwähnt die folgenden vier zentralen Merkmale, die Megatrends ausmachen:
– Dauer: Megatrends haben eine Dauer von mindestens mehreren Jahrzehnten.
– Ubiquität: Megatrends zeigen Auswirkungen in allen zentralen Bereichen der Gesellschaft.
– Globalität: Megatrends sind globale Phänomene.
– Komplexität: Megatrends sind vielschichtige und mehrdimensionale Trends.

Megatrend Silver Society

Auf der ganzen Welt werden die Menschen älter, vitaler und bleiben zudem länger fit. In der Schweiz erwartet das Bundesamt für Statistik bis 2030 rund 30 Prozent mehr Personen, die über 65 sind. Bis zum Jahr 2050 sind es 70 Prozent mehr ältere Menschen als heute (Bundesamt für Statistik 2022). Dies wird zu einer Machtverschiebung hin zu den älteren Menschen in der Gesellschaft führen.

Das Zukunftsinstitut (2022b) hat folgende vier Thesen zum Megatrend Silver Society formuliert:

  • Die Alten gibt es nicht mehr. Die älteren Menschen denken immer «jugendlicher» und wir können die «Alten» nicht als eine geschlossene Kohorte betrachten. Es sind eher Lebensstile, die durch Werte, Haltungen und Konsummuster definiert sind, die unser Verhalten bestimmen.
  • Lebensqualität wird zum höchsten Ziel. Die älteren Generationen sind dabei wesentlicher Treiber von Entschleunigung.
  • Diversität erfordert altersgemischte Teams. Es gilt in Zukunft, nicht nur junge Talente zu rekrutieren und zu halten, sondern auch als Arbeitgeber:in attraktiv zu sein für ältere Mitarbeitende. Dies wird mit zunehmendem Fachkräftemangel weiter an Bedeutung gewinnen. Unternehmen und Führungspersonen werden altersgemischte Teams entwickeln müssen, neue und auch innovative Beschäftigungsmodelle anbieten und für Lebenslanges Lernen sorgen müssen.
  • Pro‑Aging und Postwachstum gehen Hand in Hand. Die Entwicklung eines neuen Mindsets zu einem positiven Bild des Alters wird auch den Wirtschaftswandel in Richtung einer Postwachstumsökonomie im Sinne von «weniger ist mehr» unterstützen.

Obwohl sich in den letzten Jahren viel verändert hat, sind wir Menschen immer noch von Stereotypen geprägt. So wird zum Beispiel älteren Menschen häufig unterstellt, dass sie weniger produktiv, weniger lernfähig oder lernwillig, weniger belastbar, weniger kreativ und weniger flexibel seien. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zeigen jedoch, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Alter und der Arbeitsleistung gibt, und es konnte nur ein minimaler negativer Zusammenhang zwischen Alter und Weiterbildungsfähigkeit erkannt werden (Ewinger et al. 2016).

Beitrag der Angewandten Psychologie zum Megatrend Silver Society

In dem Sinn ist es von grosser Bedeutung, dass wir uns aktiv mit den verschiedenen Stereotypen auseinandersetzen und die alten bestehenden Bilder zurücklassen und neu definieren. Gerade in dieser Hinsicht kann die Angewandte Psychologie eine besonders bedeutende Rolle einnehmen, indem sie dafür sorgt, dass wir unsere Wahrnehmung dazu überprüfen, kritisch hinterfragen und gemeinsam neue und aktuelle Bilder entwickeln, an denen wir uns in allen Facetten des Lebens orientieren können. Vor allem in der Arbeitswelt ist besonders wichtig, dass sich die Unternehmen, die Führungspersonen und auch die HR‑Abteilungen aktiv damit beschäftigen und die Unternehmenskulturen in Richtung altersgemischte Teams entwickeln.

Verschiedene und gezielte Massnahmen begleitet durch die Angewandte Psychologie können die Entwicklung einer Kultur von altersgemischten Arbeitsgruppen unterstützen und die Integration fördern.

Lebenslanges Lernen

Durchlässigkeit, Individualisierung, Flexibilisierung und ein guter Mix zwischen synchronem und asynchronem Lernen spielen bei Strategien und Konzepte zum Lebenslangen Lernen eine wesentliche Rolle. Zudem müssen die Bedürfnisse aller Generationen berücksichtigt werden. Es ist bekannt, dass Kompetenzen und Interessen sich über die Arbeitslaufbahn verändern. Ältere und auch alle anderen Lernenden haben Besonderheiten, die bei der Entwicklung von Bildungsangeboten berücksichtigt werden müssen (Baltes im Interview mit Karberg 2004, S. 21). Auch spielt mit zunehmendem Alter die Fitness eine entscheidende Rolle. Je fitter der Körper, desto mehr verfügbare kognitive Ressourcen stehen zur Verfügung.
Lebenslanges Lernen heisst dabei nicht nur, Weiterbildungen zu besuchen, sondern auch Lernen am Arbeitsplatz, denn wir wissen schon seit vielen Jahren, dass 70 bis 80 Prozent des Lernens informell geschieht.

Rolle der Vorgesetzten

Die direkten Vorgesetzten haben mit ihrem Führungsverhalten einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeitskultur und zwar sowohl in Bezug auf die Leistung als auch auf die Zufriedenheit. Führungspersonen können durchmischte, diverse Teams fördern und definieren die Kriterien, was leistungsfähige Mitarbeitende sind. In dem Sinn sorgen sie auch dafür, dass ältere Mitarbeitende ihre Ressourcen und Potenzial gewinnbringend einbringen können.

«Altersgemischte Teams sind bei Arbeitsprozessen vorteilhaft, die sowohl Geschwindigkeit als auch Merkfähigkeit, das Lösen unerwarteter Probleme und intensive Kooperation erfordern.»

Intergenerationelle Zusammenarbeit

Intensive Zusammenarbeit im Berufsleben und Kommunikation auch auf persönlicher Ebene zwischen verschiedenen Altersgruppen sind sehr wichtig, um Vorurteile abzubauen. Die intergenerationelle Zusammenarbeit muss vor allem von Vorgesetzten und dem HRM initiiert und gefördert werden. Die Leistungsfähigkeit jüngerer Mitarbeitenden ergänzt sich mit der Gelassenheit, Zuverlässigkeit und dem Erfahrungswissen Älterer sehr gut und sie sorgen gemeinsam für ein gutes Arbeitsklima (Schenk 2007). Altersgemischte Teams sind vor allem bei Arbeitsprozessen vorteilhaft, die sowohl Geschwindigkeit als auch Merkfähigkeit, das Lösen unerwarteter Probleme und intensive Kooperation erfordern. Dasselbe gilt auch bei Aufgaben, welche Kreativität erfordern.

Es sollte selbstverständlich sein, dass alle voneinander lernen, und es sollte nicht als Unfähigkeit oder Gesichtsverlust erlebt werden, wenn Ältere jüngere Mitarbeitende fragen. Dies erfordert aber eine positive, offene Lernkultur, welche Lernmöglichkeiten schafft und sogar aktiv einfordert. Die Angewandte Psychologie kann dabei unterstützend wirken und speziell in Führungsausbildungen und bei Kulturentwicklungen in Organisationen entsprechend Hilfe anbieten und mögliche Lernfelder explizit machen.

Megatrend Neo-Ökologie

Der Megatrend Neo‑Ökologie beschäftigt sich mit Themen wie Umwelt, Nachhaltigkeit und Ressourcen. Ihm werden verschiedene Sub‑Trends zugeordnet wie Achtsamkeit, Urban Farming, Bio‑Boom, Sinn‑Ökonomie, Shared Economy, Minimalismus oder Zero Waste (Nagels 2017). Die Neo‑Ökologie zeigt sich damit in allen Bereichen unseres Alltags, sei dies bei Kaufentscheidungen, gesellschaftlicher Handlungsmoral oder Unternehmensstrategien. Nachhaltigkeit verändert die Verhaltens‑ und Sichtweisen der globalen Gesellschaft, der Kultur und der Politik und richtet unternehmerisches Handeln sowie das gesamte Wirtschaftssystem neu aus (Zukunftsinstitut 2022).

Neo‑Ökologie beschäftigt auch Unternehmen, die sich häufiger mit Themen wie Nachhaltigkeit, Fairtrade, Ethik, Mitarbeitenden‑Zufriedenheit usw. auseinandersetzen (Nagels 2017).

Das Motto «besser statt mehr» wird immer mehr zu einer individuellen und kollektiven Strategie, wie zum Beispiel mehr Grünflächen in der Stadt anstelle von unbepflanzten Plätzen oder Einkaufszentren oder besseres Fleisch auf dem Teller, dafür weniger davon. Die Erkenntnis, dass wir mit «weniger» sogar zufriedener sein können und mehr Lebensqualität erleben, wird sich vermutlich in Zukunft noch stärker durchsetzen (Zukunftsinstitut 2022).

Achtsamkeit als grosser Gegentrend zur konstanten Reizüberflutung

Achtsamkeit ist in vielen Bereichen zu einem Trendthema geworden. So gibt es seit einigen Jahren einen grossen Boom an Yoga‑Angeboten, Achtsamkeitstrainings, Meditationskursen usw. und auch in vielen Unternehmen ist die «achtsame Führung» zu einem viel beachteten Thema geworden. Transparente, menschenorientierte, wertschätzende und offene Unternehmenskulturen werden in Zukunft noch mehr zu einem Wettbewerbsvorteil. Mitarbeitende werden noch stärker nicht primär auf Karrieremöglichkeiten achten, sondern verstärkt in Unternehmen arbeiten wollen, in denen eine achtsame Führungs‑ und Zusammenarbeitskultur gepflegt wird. Die Angewandte Psychologie kann mit ihrem Verständnis für eine menschenwürdige Gesellschaft und ihren Kompetenzen diese Entwicklung sehr gut unterstützen, indem Achtsamkeit in Führungsausbildungen einen wichtigen Platz erhält, in Coachings darauf eingegangen wird, HR‑ und L&D‑Abteilungen bei der Entwicklung und Umsetzung entsprechender Konzepte unterstützt werden, psychologische Beratungsangebote niederschwellig allen Mitarbeitenden zugänglich gemacht werden und Unternehmenskulturen umsichtig und eben achtsam entwickelt werden.

Der Beitrag der Umweltpsychologie zum Megatrend Neo-Ökologie

Die Umweltpsychologie ist ein Teilgebiet von Nachhaltigkeit und kann auf verschiedenen Ebenen wesentliche Beiträge leisten. Es ist wichtig, dass nun die wissenschaftliche Basis dazu geschaffen wird und relevante Themen antizipiert werden. Fragen wie z. B. «wie der Mensch zum:zur Gestalter:in werden kann» oder die Gesellschaftsperspektive stärker verankert werden kann, sollten unbedingt bearbeitet werden.

Neue Werte sind eigentlich altbekannte Werte, aber mit einem anderen Fokus:

  • Verantwortung für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Dafür müssen entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt werden.
  • Glaubhaftigkeit, d. h., Handlungen und Verhalten von Organisation müssen langfristig überzeugen.
  • Transparenz bezüglich ökologischer Prozesse und der Information darüber, Fehlerkultur offen leben und realistische Selbsteinschätzungen sind gefordert.

Gerade für die Angewandte Psychologie gibt es im Bereich der Nachhaltigkeit noch viel zu tun und auch viele Entwicklungsfelder. Es ist wichtig, dass sich die Psychologie zusammen mit anderen Wissenschaften intensiv darum kümmert und ihre Kompetenzen einbringt. Im Zusammenleben in der Arbeitswelt und der Gesellschaft sind Menschen gefordert, zugunsten der Nachhaltigkeit eine Balance zwischen dem individuellen Werteempfinden und dem Überleben als Gemeinschaft zu finden.

«Die Psychologie hat eine grosse Chance, noch stärker mitzugestalten, damit Menschen und Organisationen den vielfältigen Herausforderungen gewachsen sind.»

Die Angewandte Psychologie beschäftigt sich bereits mit vielen Themen und Kompetenzbereichen, die aktuell eine große Bedeutung haben, wie z. B. Führungskulturen, Lern‑ und Wissenskulturen, Veränderungs‑ und Selbstmanagement‑Kompetenzen, Resilienz und allen überfachlichen Kompetenzen, die wir in der heutigen Arbeitswelt laufend und dringend benötigen. Die Psychologie hat bei den aktuellen Entwicklungen in den Arbeits‑ und Lebenswelten eine grosse Chance, sich noch stärker zu profilieren und mitzugestalten, damit wir Menschen und auch Organisationen den vielfältigen Herausforderungen gewachsen sind.

Gemäß dem Zukunftsinstitut (2022) könnte man Wissenschaftler:innen heute als die neuen Influencer:innen bezeichnen. Wissenschaft ist wieder attraktiv geworden. Podcasts, Blogs und YouTube‑Kanäle, die aktuelle Erkenntnisse praxisnah und gut verständlich vermitteln, erreichen viele Follower:innen und tragen dazu bei, dass Wissen für viele Menschen zugänglich wird.

Prof. Dr. Christoph Negri ist Arbeits- und Organisations-psychologe, Fachpsychologe für Sportpsychologie, SBAP und Leiter des IAP Institut für Angewandte Psychologie. Er arbeitet als Dozent, hat Beratungsmandate für verschiedene
Profit- und Non-Profit-Organisationen inne und berät diverse Schweizer
Spitzensportler:innen.

Maja Goedertier, ist Psychologin und Beraterin im Bereich Management-diagnostik und Sicherheitspsychologie. Ihr Arbeitsschwerpunkt am IAP ist die psychologische Eignungsdiagnostik von Führungspersonen sowie Personen in verschiedenen beruflichen Kontexten.

Den vollständigen Text finden Sie im Beitrag «Die Gestaltung von Transformation durch die Angewandte Psychologie» im Buch «Was bewirkt Psychologie in Arbeit und Gesellschaft?» (Hrsg. Christoph Negri und Maja Goedertier). Das Buch erscheint im Frühling 2023 im Springer-Verlag anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des IAP.

Literatur-Auswahl

  • Bundesamt für Statistik (2022). https://www.viz.bfs. admin.ch/assets/01/ga‑01.03.01/de/index.html. Zugegriffen: 24. Mai 2022.
  • Ewinger, D., Koerbel, J., Ternès, A., & Towers, I. (2016). Arbeitswelt im Zeitalter der Individualisierung. Wiesbaden: Springer Gabler.Karerg, S. (2004). Die Kultur des Alterns: Interview mit Paul Baltes. Mck Wissen, 8, 18–24.
  • Kessler, E. M., Kruse, A., & Staudinger, U. M. (2010). Produktivität durch eine lebensspannenorientierte Konzeption von Altern in Unternehmen. In A. Kruse (Hrsg.), Potenzial im Altern: Chancen und Aufgaben für Individuum und Gesellschaft (S. 271– 284). Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft AKA.
  • Nagels, P. (2017). Welt: So soll sich unser Leben bis 2030 verändern. Welt kmpkt. https://www.welt.de/ kmpkt/article166416327/so‑soll‑sich‑unser‑Leben‑bis‑2030‑veraendern.html. Zugegriffen: 26. Juni 2022.
  • Schaidreiter, A. (2019). Analyse von Megatrends und deren Chancen und Risiken am Beispiel ausgewählter Infrastrukturunternehmen, – 2019. – IV, 62, A‑LXXXII S. Mittweida: Hochschule Mittweida, Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen, Diplomarbeit 2019.
  • Schenk, H. (2007). Der Altersangst-Komplex: auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewusstsein. München: C.H. Beck.
  • SRF (2022). https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft‑religion/leben‑in‑zukunft‑zukunftsforscher‑aeltere‑ leute‑werden‑kuenftig‑mehr‑macht‑haben. Zugegriffen: 24. Mai 2022.
  • Zukunftsinstitut (2022). https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/. Zugegriffen: 12. Mai 2022. Zukunftsinstitut (2022b). https://www.zukunftsinstitut. de/dossier/megatrend‑silver‑society/. Zugegriffen: 24. Mai 2022.


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